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Die Zukunft des 20. Jahrhunderts

Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung

Erschienen am 08.06.2017, Auflage: 1/2017
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593506951
Sprache: Deutsch
Umfang: 322 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 21.5 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

In der Geschichtswissenschaft lässt sich in den vergangenen Jahren eine Hinwendung zu Fragen der Zeitlichkeit beobachten. Insbesondere Zukunftsentwürfe erfahren dabei große Aufmerksamkeit: Sie stellen für Historiker eine Möglichkeit dar, sich historischen Systembrüchen aus ganz neuen Perspektiven zu nähern. Denn die klassische Geschichtsschreibung tendiert dazu, die Vergangenheit als Vorlauf der Gegenwart zu betrachten; verworfenen oder nicht umgesetzten Ideen und Projekten schenkt sie dagegen nur wenig Beachtung. Bei der Analyse von vergangenen Zukunftskonzepten besteht der Ertrag also nicht in geschlossenen Geschichtsbildern, sondern in der Auflösung des historischen Wandels in eine Pluralität von Geschichtserzählungen.

Autorenportrait

Lucian Hölscher war von 1991 bis 2014 Professor für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Universität Bochum; der international renommierte Historiker hat 2014 das Netzwerk "Die Zukunft des 20. Jahrhunderts" ins Leben gerufen.

Leseprobe

Theoretische Grundlagen der historischen Zukunftsforschung Lucian Hölscher Auf dem Weg zu einer Geschichte der Zukunft Der Anstoß dazu, eine Geschichte der Zukunft im 20. Jahrhundert zu entwerfen, geht von dem Eindruck eines fast unvermeidlichen Anachronismus aus, der allen Geschichten des 20. Jahrhunderts ? zumindest in Deutschland, wo die gesellschaftlichen und mentalen Umbrüche besonders stark waren ? innewohnt: Immer wieder stoßen wir nämlich beim Rückblick auf das vergangene Jahrhundert an Grenzen des Verstehens, der Nachvollziehbarkeit und damit auch des Bemühens, vergangenen Zeiten gerecht zu werden. Im Lichte späterer Ereignisse und Entwicklungen erscheinen uns die Erfahrungen und Erwartungen der Zeitgenossen, ihre Normen und Leitbilder als überholt, ja oft geradezu als abwegig. Die häufig ergriffene Möglichkeit, sie nachträglich zu kriminalisieren, zu pathologisieren oder zu bagatellisieren, stößt schnell an ihre Grenzen. So richtet sich der Blick geradezu zwangsläufig auf die Frage, warum wir uns nicht mehr in die Tradition jener vergangenen Hoffnungen und Träume, Projekte und Planungen stellen können, welche die Handlungen und Entscheidungen früherer Generationen bestimmt haben. Und dies führt zur Frage nach den Gründen und Umständen, die zum Wandel jener Leitbilder und notwendigen Parameter geführt haben, ohne die auch keine Beurteilung des vergangenen Geschehens möglich ist. Die Geschichtsschreibung vollzieht damit nach, was schon für viele Zeitgenossen zur fast alltäglichen, existenzbedrohenden Erfahrung gehörte: Nach gesellschaftlichen Umbrüchen, wie sie in Deutschland 1918, 1933, 1945 und 1989, aber weniger sichtbar und gewissermaßen schleichend auch im Wechsel der Generationen, innerhalb von Institutionen und sozialen Gruppen immer wieder vorkamen, verstanden die Jüngeren die Älteren, und oftmals auch diese selbst, nicht mehr, wie sie früher ganz anderen Normen und Leitbildern folgen konnten. Historisches "Verstehen" wurde, wie sich spätestens im Historikerstreit der 1980er Jahre zeigte, zu einem problematischen und gefährlichen Vorgang, schien es doch die Gefahr einzuschließen, das zu entschuldigen, womit man sich im Nachhinein nicht mehr gemein machen wollte. Die Geschichte der vergangenen Zukunft ist daher im deutschen (aber nicht nur im deutschen) 20. Jahrhundert weithin eine Geschichte der unerfüllten und fehlgeleiteten Hoffnungen, von Erwartungen, die nicht aufgingen, von Ideen und Idealen, die sich bei ihrer Realisierung als ganz und gar nicht wünschenswert herausstellten. Und doch verfehlen wir den Wunsch, uns in der Vergangenheit unserer Gegenwart und Zukunft zu vergewissern, wenn wir vergangenen Entwicklungen nicht wieder ihre vormalige Offenheit, ehemaligen Zukunftsentwürfen nicht ihr früheres Hoffnungs- und Möglichkeitspotential zurückgeben. Gefangen zwischen dem Verlust vergangener Zukünfte und dem drohenden Verlust unserer Gegenwartserfahrung, die mit jenen Zukünften gebrochen hat, müssen wir nach einer neuen theoretischen und methodischen Grundlage für unsere Geschichtsschreibung suchen. Die hier erstrebte Wende des historischen Blicks von der gegenwärtigen Vergangenheit zur vergangenen Zukunft, von den historischen Vorgängen zu den Voraussetzungen ihrer Beschreibung und Erklärung, birgt zugleich Gefahren und Chancen in sich. Eine Geschichte der Zukunft im 20. Jahrhundert zu entwerfen, ist daher eine ebenso reizvolle wie bedenkliche Sache. Zwar fördert sie einerseits ganz neue Tatbestände und sogar ganz neue Untersuchungsfelder zutage, doch rührt sie andererseits auch an Grundfragen und Grundannahmen der Geschichtswissenschaft, die gewissermaßen zu deren unantastbarem Kern zu gehören scheinen. Letztlich fordert eine Geschichte der Zukunft sogar einen ganz neuen Zuschnitt für historische Darstellungen. Zur Debatte steht in ihr nämlich nicht allein im materiellen Sinne, was nach Ansicht früherer Zeiten später einmal kommen wird, sondern auch die Fülle historischer Bedingungen und Auswirkungen von Zukunftswissen. Zur Debatte stehen, wie sich im Folgenden zeigen wird, unser Konzept von historischer Zeit überhaupt, die temporalen Modi und Formen der Geschichtsschreibung und damit die Wirklichkeitskonstruktionen, die historischen Darstellungen überhaupt zugrunde liegen. Eine historische Darstellung der Zukunft, sei es der vergangenen oder auch der gegenwärtigen Zukünfte, bietet so weniger eine einfache Verlängerung der Geschichte in die Zukunft hinein als vielmehr eine Überprüfung und Erweiterung gängiger Hypothesen und Methoden der historischen Forschung. Davon wird nicht nur die Darstellung kommender, sondern damit zugleich auch die Darstellung vergangener Zeiten berührt. In dem hier vorliegenden Band wird der Versuch unternommen, Elemente einer Geschichte der Zukunft im 20. Jahrhundert zu sammeln, zu diskutieren und miteinander in Beziehung zu setzen, die den Bedingungen und Möglichkeiten einer Zukunftsgeschichte genügen. Die Beiträge arbeiten solche Elemente jeweils an konkreten historischen Wirklichkeitsfeldern heraus und können so jeweils auch schon als Bausteine zu einer Geschichte der Zukunft im 20. Jahrhundert gelesen werden. Zukunft und Vergangenheit In einem ersten Schritt wird es zunächst um allgemeine theoretische Aspekte gehen, die einer Geschichte der Zukunft im Wege zu stehen scheinen: Lässt sich die vergangene Zukunft überhaupt aus der Vergangenheit lösen, in der sie verwurzelt ist? Worin unterscheiden sich Zukunft und Vergangenheit, wenn sie zu Gegenständen der Geschichtsschreibung gemacht werden? Handelt eine Geschichte der Zukunft von Tatsachen und Ereignissen oder allein von Vorstellungen und Einbildungen? 1. Zunächst stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine sinnvolle Aufgabe ist, Zukunftsentwürfe zu sammeln und zu vergleichen. Wozu sie eigens thematisieren? Waren sie nicht immer schon Thema historischer Darstellungen, die sich mit den Motiven und Auswirkungen historischer Entscheidungen beschäftigt haben? Das trifft wohl zu, verstellt aber den Blick für die größeren Zusammenhänge unter den Zukunftsentwürfen vergangener Zeiten selbst. Löst man jeden von ihnen dagegen aus seinem konkreten historischen Zusammenhang, dann werden größere soziale Interessenlagen, Konjunkturen bestimmter Vorstellungen und ihrer Genese, epochentypische Zukunftshorizonte und viele andere Dinge sichtbar, die bei einer jeweils nur singulären Betrachtung verborgen blieben. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, eine Geschichte der Zukunft, und sei es auch nur der vergangenen Zukunft, zu schreiben. Zwar liegen uns zahlreiche historische Zeugnisse darüber vor, wie sich Menschen früherer Zeiten die Zukunft vorgestellt haben, und auch darüber, wie sie sich gegenwärtig die Zukunft ausmalen. Aber gerade die Fülle dieser Vorstellungen, ihre Flüchtigkeit und geringe Verlässlichkeit sind ein Problem für jede Geschichtsschreibung, welche sich notwendigerweise darauf beschränken muss, die wirkungsmächtigsten unter ihnen auszuwählen. Kann sich diese Fülle zu einem Ganzen fügen? Lassen sich kollektive, epochale, räumliche Strukturen in ihnen finden? 2. Solchen Bedenken liegt die Annahme zu Grunde, dass die Zukunft etwas ganz anderes sei als die Vergangenheit, nämlich offen, unbestimmt und daher der Geschichtserzählung unzugänglich. Tatsächlich sind Zukunft und Vergangenheit aber weniger verschiedene Zeiten, als wir gewöhnlich meinen. Nach gängiger Vorstellung der seit dem 18. Jahrhundert in der westlichen Welt eingebürgerten klassischen Geschichtsforschung bilden Zukunft und Vergangenheit zwar zwei grundsätzlich verschiedene Wirklichkeitsbereiche: Was in der Vergangenheit geschehen ist, scheint, soweit davon noch Zeugnisse vorhanden sind, im Prinzip erkennbar, was in der Zukunft geschehen wird, dagegen im Prinzip offen und daher nicht vorherzusehen. Das war aber nicht immer so und muss auch nicht immer so bleiben: In außereuropäischen und vormodernen europäischen Gesellschaften finden wir oft noc...